Der Boss in Berlin!
19. Juni 2016, Berlin, Olympiastadion
Bruce Allmächtig oder wie der Kreis rund wird
19.07.1988, Berlin – Weißensee, Radrennbahn
10.05.2003, Ludwigshafen, Südwest-Stadion
02.12.2007, Mannheim, SAP-Arena
19.06.2016, Berlin, Olympiastadion
Nein, einfach waren „meine“ Springsteenkonzerte nun wirklich nicht … „Es“ begann 1988, nun genauer eigentlich schon 1982, mit jenem spröden „Nebraska-Album“, aufgenommen mit atmosphärischer 16-Spur-Technik, Klampfe, Harp, das Knistern des in Budapest „gefundenen“ lau-gepressten Teuer-Vinyls könnte auch das Lagerfeuer in Bruce‘ Hütte sein. Nicht das ich (wir) „Darkness …“ oder um Himmelswillen gar „The River“ nicht kannten (irgendwer kannte irgendwie immer irgendwen mit Boss-Platten), - Lyrics wie „Everything dies baby, thats a fact,…“ wurden mal schnell durch den Umdeutungswolf gedreht, raus kam radebrechend-englisch die verbale Blaupause für den Aufbruch auf die bevorstehende große Reise. Die Kompatibilität des Megasellers „Born in the USA“ hat dann endgültig für Legendenstatus im 3-Minuten-Abstand gesorgt, gestört hat das nur wenige, geschadet keinesfalls. Im Sommer 1988 (so eine Art „ostdeutscher Summer of Love mit Endzeitstimmung“) dachten sich ein paar semiclevere Ventilöffner und Meinungs-Monopolisten ´nu, holen mer mal den Boss, ist ja einer aus der Arbeiterklasse und für die unterdrückten (Neger) hat er auch ein Herz´ und feiern auf der Radrennbahn in Berlin-Weißensee ein antiimperialistisches Stelldichein mit DDR-Lappen und Fünfjahrplan. Dumm nur, dass für den letzten Hoffnungsträger des Rock 'n' Roll Unterdrückung so wenig am Eisernen Vorhang aufhörte wie, sagen wir mal, Schneefall. Das „Die Mauer muss weg-Statement“ wurde zum öffentlichen Desaster für kleinkarierte, parteiabzeichentragende Kulturattachés. Verheimlicht, verschwiegen, sich vor aller Welt lächerlich gemacht, fünf Stunden Boss-Time, Amerika im größten Dorf der Welt. Born in the USA, das Fenster aufgestoßen, raus den Mief, raus aus der Enge, „Boss here we are“ 180.000, oder gar 200.000? Wen wundert's, dass weder Sound noch Sicht optimal waren, das hätte der selige Fritz Rau auch auf dem Zeppelinfeld nicht hinbekommen. Gut, besser schon, aber vergesst nicht, 200.000 Leute!
Es gibt Bands, die hat der Autor häufiger gesehen; die waren (oder sind) günstiger, regelmäßiger auf den Brettern, kleiner, weiß Gott nicht beliebig (Chapman, Ash, Mayall, BoH, Trout, usw .usf.), sattsam bekannte Begleiter, zuverlässig … immer ein paar Wirkungstreffer parat (naja, John Mayall doch nicht immer) in Schlagdistanz zu Bruce Springsteen kommen aber eben nur die Stones, so isses, basta!
Dass der Boss nicht nur die Zukunft des Rock 'n' Roll war/ist (Jon Landau) sondern auch der Kapellmeister, der 1988 titanicgleich den DDR-Untergang antizipierte mag Zufall sein, dem Rezensenten, Augen-und Ohrenzeuge jener 88er Show, wird es wohl niemand verübeln, dem Auftritt eine gewisse historische Dimension zuzuordnen. Auf der nächtlichen Rückfahrt nach „West-Thüringen“ noch das Auto zerlegt, Mund abgeputzt, wird schon, irgendwie…
2003 treffen wir in Ludwigshafen auf einen sichtlich aufgewühlten Springsteen, der Hintergrund dafür ist freilich ein ganz anderer: der furchtbare Terroranschlag auf das WTC in New York!
Rising-Tour, mit dem gleichnamigen, bisweilen schwierigen, Album, dessen Brüche nicht immer nachvollziehbar waren. Erst sehr spät, genaugenommen 2016, erschließt sich mir beim Wieder-und Wiederhören das ganze Spektrum des Albums, das, trotz aller Finsternis, den Hörer nicht hoffnungslos zurücklässt. Und was bleibt uns auch anderes übrig, als immer wieder zu hoffen?
So eine Konzertvorbereitung und Nachbearbeitung kann auf wundersame, nein, auf wunderbare Weise Sinn stiften.
Die Indoor-Show 2007 in der Mannheimer SAP-Arena wird souverän runtergespielt, vorhersehbar wäre zu böse und was soll er auch machen? Außerdem ist mir eine Backstreets-Live-Botschaft wichtiger, als zehnmal ideenlose Satisfaction-Rifferei. Was definitiv für dieses Konzert sprach, war der glasklare Sound, brillant!
28 Jahre später, ein paar Kilo schwerer, machen wir uns wieder auf den Weg nach Berlin, unser Auto können wir nicht zusammenlegen, die Jahre lassen den Autor vorsichtiger werden, er sitzt im Zug
Es verwundert schon ein wenig, dass sich die Fanbase eines fast 70jährigen immer wieder reproduziert. Ich meine, auf einer Stones-Show triffst du Angehörige der Alters-Kohorte, hier beim Boss eigentlich alle: Situierte, Hipster, Hausfrauen, Lehrer & weitere Amtsschimmel, Rocker, Poeten, Kiffer, Kokser, Partyvolk. Und vor den beiden riesigen Merch-Ständen stehen in Summe so viel Leute wie beim letzten Mannheimer Tom-Petty-Auftritt!
Es ist angerichtet, die Sonne geht genüsslich unter, das Olympiastadion ist bis auf den letzten Platz ausgebucht, die Anlage nach drei/vier Nummern optimal ausgereizt, die E-Street-Band kann nicht anders als formidabel losrocken, schon bei „Adam Raised A Cain“ werden alle Hebel umgelegt, alle Weichen Richtung „fulminante Rockshow“ gestellt. Die Frage, ob die Tour wirklich nach dem famosen 80er Album „The River“ benannt werden musste, lasse ich mal barmherzig unbeantwortet. In drei viel zu kurze Stunden müssen schließlich über 30 Songs gepackt werden.
Die Befürchtung, dass uns eine moderne Rockinszenierung wagnerianischen Ausmaßes erwartet, erfüllt sich Gott sei Dank nicht, trotz des Setlisten-Hitpotpourris. Die wirklich magischen Momente sind ohnehin die ruhigeren, die leisen Töne: „Thunder Road“ oder „The River“ schleichen sich beim Schreiben in den Sinn. Das größte Verdienst jedoch ist: man nimmt es ihm ab, hält Bruce Springsteen für glaubwürdig, den Anwalt der Working-Class-Heroes, die buchstäbliche ehrliche Haut. Da stört das planbare und sicher auch geplante „Boss-Kind-Geschunkel“ ebenso wenig wie die Tanzeinlage mit einer Zuschauerin.
Der Boss hat die Berliner Bühne verlassen, noch lange hallen Bruuuuce-Bruuuuce-Rufe durch das Oval. Nach einer solchen Show muss einem um die Rockerei nicht bange sein.
Später, an der U-Bahn, werden die Ellenbogen wieder ausgepackt. Alle(s) sehr irdisch hier. Wie schnell das doch geht. Merkwürdig.
Die Band:
E-Street-Band
Bruce Springsteen – Gesang, Mundharmonika, E-Gitarre, Akustische Gitarre, Piano
Nils Lofgren – E-Gitarre, Pedal-Steel-Gitarre, Akustische Gitarre, Background Vocals
Steven Van Zandt – Akustische Gitarre, E-Gitarre, Mandoline, Background Vocals
Garry W. Tallent – Bass, Background Vocals
Patti Scialfa – Akustische Gitarre, Second Vocals, Background Vocals
Roy Bittan – Piano, Hammond-Orgel, Accordion
Max Weinberg – Schlagzeug
Additional:
Jake Clemons – Saxophon, Background Vocals, Percussion
Soozie Tyrell – Violine, Akustische Gitarre, Percussion, Background Vocals
Charles Giordano – Orgel, Accordion, Electronic Glockenspiel
Setlist:
Adam Raised a Cain
Badlands
Sherry Darling
My Lucky Day (tour premiere)
Wrecking Ball
Night (by request)
It's Hard to Be a Saint in the City (by request)
Spirit in the Night
Candy's Room (by request)
She's the One
Hungry Heart
You Can Look (But You Better Not Touch)
Death to My Hometown
My Hometown
The River
American Skin (41 Shots)
The Promised Land
Working on the Highway
Darlington County
Waitin' on a Sunny Day
I'm on Fire
Because the Night (Patti Smith Group cover)
The Rising
Land of Hope and Dreams
Die Alben (die wichtigsten):
1973: Greetings from Asbury Park, N.J. (1973)
1973: The Wild, the Innocent & the E Street Shuffle (1973)
1975: Born to Run (1975)
1978: Darkness on the Edge of Town (1978)
1980: The River (1980)
1982: Nebraska (1982)
1984: Born in the U.S.A. (1984)
1987: Tunnel of Love (1987)
1992: Human Touch (1992)
1992: Lucky Town (1992)
1995: The Ghost of Tom Joad (1995)
2002: The Rising (2002)
2005: Devils & Dust (2005)
2006: Hammersmith Odeon, London '75 (2006)
2006: We Shall Overcome: The Seeger Sessions (2006)
2007: Magic (2007)
2009: Working on a Dream (2009)
2010: The Promise (2010)
2012: Wrecking Ball (2012)
2014: High Hopes (2014)
Gunther Böhm