Pearl Jam + X
7. Juli 2012, Ericsson Globe Arena, Stockholm
Have I got a little story for you …
Seien wir ehrlich: Musik ist das tollste Hobby überhaupt. Sie begleitet einen in jeder Lebenslage. Sie beschert einem im Laufe der musikalischen Karriere unzählige Magic Moments. Und echte Musik-Nerds wie wir, die werden von ihr in der Weltgeschichte herum geführt, lernen fremde Städte, Länder, Kulturen und Menschen kennen. So auch im Juli 2012. Deutschland-Trips ... München, Berlin, Köln, klar. London und andere Teile von UK auch gesehen. Amsterdam, Paradiso ... 2011. Austin, TX ... jedes Jahr seit 2010, wie hier nachzulesen. Aber Skandinavien war bislang ein weißer Fleck auf der musikalischen Landkarte, Stockholm ist ja auch nicht unbedingt das absolute Mekka des Rock ’n’ Roll. Schön deshalb, dass Eddie, Mike, Stone, Jeff und Matt auf ihrer 6-Gig-Europa-Tour halt in der wunderschönen schwedischen Hauptstadt machen, die auch auf der Reisekarte bislang ganz oben auf der To Do-Liste stand. Also das Angenehme mit dem Angenehmen verbinden!
SAS bringt uns bereits einen Tag vorher sicher in die schwedische Hauptstadt; wider Erwarten empfängt uns dort strahlender Sonnenschein, so dass wir uns von unserem Hotel in Bahnhofsnähe über diverse Brücken in die Gamla Stan begeben, dort uns mit skandinavischem Essen stärken, das eine oder andere Öl (trotz erwarteter skandinavischer Preise trinken) und schließlich in einem gemütlichen Irish Pub ein gutes Akustik-Duo zum musikalischen Einstimmen anschauen. Hier können wir auch die Happy Hour noch mitnehmen, auch wenn 39 Kronen für einen Pint in Deutschland eher für Entsetzen als für Freude sorgen würden.
Am zweiten Tag steht eigentlich neben ein bisschen Shopping in der Gamla Stan noch weiteres Sightseeing auf den südlichen Stadt-Inseln an, aber wir kommen bis zum Debaser-Club mit seiner am Wasser gelegenen Außenterrasse ... und bleiben dort die nächsten Stunden, gemütlich bei schönstem Wetter, guter Musik und dem einen oder anderen Norrlands Guld (und Mojito, „egal, was er kostet“-Gunther; waren 120 Kronen ...) in der Sonne chillend. War die richtige Wahl, keine Hektik heute, sondern gemütlich auf das Konzert einstimmen.
Die Tunnelbana bringt uns schließlich am frühen Abend in wenigen Minuten zur Ericsson Globe Arena, einer riesigen Multifunktionsarena, Größe vielleicht SAP-Arena, aber mit viel höheren Rängen ... beeindruckend! Zu unserer Überraschung ist die Arena sehr spärlich gefüllt, und das eine gute Stunde vor Konzertbeginn. Wir begeben uns in den Getränkebereich und vertreiben uns die Zeit, bis Punkt acht die Vorband, die Punk Band X aus Los Angeles, auf der Bühne steht. Das mit dem Getränkebereich ist witzig in Schweden: dieser ist strikt im hinteren Bereich der Halle abgesperrt, und rein kommt nur, wer mit Ausweis zeigen kann, dass er alt genug ist. Raus kommt man auch nur ohne Getränk, selbst wenn man ein antialkoholisches mit reingekommen hat. Man könnte ja was rein kippen ... jedenfalls lernen wir drinnen einen netten Finnen kennen, der auch extra rüber gereist ist und sich dann zum Entsetzen von Gunther als Chelsea-Fan herausstellt. Das Bayern-Trauma ist noch ganz frisch ...
Jedenfalls füllt sich kurz vor neun ... Moment, irgendwas war noch. Ach so, ja. X, die Vorband. Nee ... Satz mit X. Punk-Legende, sagt man ... aber mich lässt es kalt. Gute Musiker, aber irgendwie für Punk zu gut. Viel zu wenig Dreck für diesen Musikstil, eigenartiger Frauengesang und auch kein Song, der im Ohr bleibt. Mike McCready gefällt’s, er kommt auf die Bühne und spielt einen Song mit, aber das war eigentlich auch das einzige Highlight. Einfach nicht meins.
Heute Abend ist mein erstes Pearl Jam-Konzert und wie man liest, kann man ja immer die ganze Tour mitfahren und erlebt jeden Abend etwas komplett Anderes ... was kommt heute? Ten-Verweigerung? Best of? Jam-Rock? Fokus auf welchen Platten? Wir warten mit angehaltenem Atem ... kurz vor neun wird es schlagartig rappelvoll, keine Ahnung, wo all die Menschen die ganze Zeit waren, wenig später geht das Licht aus, das schöne, dezente Bühnenbild (mit leichtem 3D-Effekt) wird präsentiert, Eddie Vedder zählt kurz ein und die Band startet mit „Elderly woman behind the counter in a small town“. Ein spannender Opener – mit einer (fast) akustik Ballade zu eröffnen ... das zeigt schon: das wird kein normaler Konzertabend. Mit „Corduroy“ und „Got some“ wird das Tempo angezogen und Song Nr. 4 beantwortet mit seinem seit 20 Jahren bekannten Drumbeat und dem einsetzenden Basslauf schon einmal die Frage nach dem Debut Album ... „Why go?“. Ja, warum auch? Das ist jetzt schon Rock in Perfektion ... eine Band aus Weltklassemusikern, bei denen jeder genau weiß wo (nicht nur in räumlicher Hinsicht ...) sein Platz auf der Bühne ist: eine Wahnsinns-Rhythmus-Gruppe mit Jeff Ament und Matt Cameron, Stone Gossard (links posiert) bildet das Gitarrenfundament, auf dem sich Mike McCready (rechts von Eddie Vedder) dann mit gefühlvollen Leads oder wilden Soli austoben kann. Dazu ein Frontmann, der mittlerweile akzeptiert hat, dass er ein Rockstar ist und stets hochsympathisch und normal rüberkommt ... und mit einer Stimme gesegnet ist, die ihres gleichen sucht. Die Setlist nimmt dann wieder mit zwei ruhigeren Stücken Dampf raus, dramaturgisch schön gemacht, ehe „Given to fly“ und das wilde „Comatose“ auf den ersten riesen Höhepunkt hinsteuern: bei „Even flow“, einem der vielen Übersongs des Debuts brechen erstmals die Dämme, die ganze Halle springt und die Band zelebriert den Song mit coolen Solo-Jams. Das rüde „World wide suicide“ rundet den Rock-Block ab, ehe die Band das Publikum mit in den düsteren „Garden“ nimmt, auch hier wieder ausgiebig jammend ... eine Wahnsinns-Nummer, auch nicht immer im Set. Das Kinks-Cover „Better things“ leitet den Endspurt des ersten Sets ein; vier ruhigere Nummern folgen (wobei ich gestehen muss, dass ich „1/2 full“ nicht erkannt habe.. „Riot act“ ist eine eher weniger gehörte PJ-Platte bei mir, warum eigentlich?) und als letzten Song des ersten Sets sorgen schon die ersten Töne von „Jeremy“ für Euphorie. Dann Durchatmen. 17 Songs, 80 Minuten, Hammer Setlist bislang. 4 x „Ten“ schon ... was mag da noch kommen?
Die Band nutzt die Pause auch zum Wechsel des Bühnenbildes und wie im ersten Set steigen sie mit einer Ballade, dem schönen „Off he goes“ vom folkigen „No code“-Album ein, gefolgt von einer sehr emotionalen Version von „Just breathe“, gespielt von Eddie Vedder solo. Ich weiß nicht, woran es hier lag, vielleicht waren die Reaktionen des Publikums auf die zwei ruhigen Stücke zurückhaltender ... aber an dieser Stelle und auch durch Eddies Ansage anschließend („The set is evolving“) habe ich den Eindruck, sie stellen sie Setlist spontan um, weil die Meute an einem Samstagabend doch mehr auf Rock gepolt ist. Statt weiteren ruhigen Stücken hauen sie den „Singles“-Soundtrack-Klassiker „State of love and trust“ und das schräge „Do the evolution“ raus ... sehr klasse, Stockholm nimmt es begeistert entgegen. Mit einem The Who-Cover und „Porch“ (!!!) geht’s wieder von der Bühne in die nächste Pause ... und nun möge man mir verzeihen, dass ich den, äh, seriösen Journalismus verlasse, aber was im letzten Block folgt, das ist einfach nur die pure Geilerei!! „Once“, Schweden steht Kopf. „Crazy Mary“, das legendäre Victoria Williams-Cover. „Black“... oh, the pictures have all washed in black ..., auf fast acht Minuten zelebriert und direkter Übergang in „Alive“... gut zu diesem Song muss man nichts weiter sagen, ich habe schon beim Gitarrenriff Gänsehaut. Anschließend geht das Hallenlicht an, doch anstatt sich zu verabschieden, folgt eine fulminante Version von Neil Youn’'s „Rockin’ in the free world“ (hätte sicherlich auch Neil Young selbst begeistert!), unterstützt von einem 14000 Mann starken Backgroundchor aus allen Ecken der Arena. Hier liegt mehr als nur ein Hauch von Rebellion in der Luft. Fehlt noch was zum Komplettieren? Ja, klar ... Mike McCready’s Gitarrenlicks deuten es an ... weshalb „Yellow ledbetter“ nur eine B-Seite war, ist eines der größten Geheimnisse der Rockgeschichte, diese gefühlvolle, völlig unkitschige, balladeske Nummer treibt selbst dem härtesten Rocker Tränen in die Augen. Nach guten drei Stunden werden Pearl Jam vom tobenden Publikum mit Standing Ovations verabschiedet. Und ich bin sprachlos.
Drei Stunden Rockmusik auf allerhöchstem Niveau, ein Wechselbad der Gefühle, von völlig normalen Musikern, die sich nicht hinter irgendeiner Show verstecken, sondern einfach nur ihr Können und ihre Songs für sich sprechen lassen ... das hier, das waren heute Abend die ganz, ganz Großen. Ich verneige mich in Richtung Seattle.
Top 3 meiner 20jährigen Konzertkarriere, mindestens. Ich habe, während der Official Bootleg mit den letzten Klängen von „Black“ läuft, schon wieder Gänsehaut.
Setlist:
Elderly woman behind the counter in a small town
Corduroy
Got some
Why go
Amongst the waves
Wishlist
Given to fly
Comatose
Even flow
World wide suicide
Garden
Better things (The Kinks)
Unthought known
All those yesterdays
The fixer
1/2 full
Jeremy
.........
Off he goes
Just breathe
State of love and trust
Do the evolution
Love reign o'er me (The Who)
Porch
.........
Once
Better man
Crazy Mary (Victoria Williams)
Black
Alive
Rockin’ in the free world (Neil Young)
Yellow ledbetter
Florian Störzer