American Aquarium
18. Mai 2012, Wild At Heart, Berlin
„It‘s too late to stay now …“!
Um 22.00 Uhr sollte es in dem gemütlichen, versifften Club (an der Decke hängt ein Teppich, die Toiletten haben Austin-Flair – deren Tür mit einem Gitarrenhals geöffnet wird), losrocken. Eigentlich. Dass vorher ein Punk-DJ auflegt und dann The Razed aus SE (Schweden ??, so die Ankündigung auf dem Programm) Support spielen, habe ich in der Vorbereitung nicht richtig überrissen.
Hinter der Theke hängen vier bis sechs Personal-Tattoo-Vollfreaks ab, die uns (wir sind pünktlich im Club und um 22:00 Uhr die einzigen Gäste) unser Bier servieren, zu zivilen Preisen, wir sind schließlich in Kreuzberg. Die Umstände bestätigen die naheliegende Vermutung: Das Wild At Heart ist ein lupenreiner Punkschuppen, der mit American Aquarium die Ausnahme für die Regel verpflichtet hat. Von Amis ist bis dahin (noch) nichts zu sehen.
Wir sortieren uns vor der Theke ein und bekommen eine Stunde das volle Punkbrett aus der Konserve serviert. Soweit ich das beurteilen kann: Sex Pistols, Ramones, The Damned, Exploited…
Um 23:15 Uhr stehen dann endlich The Razed auf der Bühne, klassische Triobesetzung, Gitarre + Vocals, Bass + Vocals, Drums. Der bescheiden gemixte Sound bewegt sich zwischen Rock, Stoner-Rock und Punk. Nichts gegen laute Musik, das war aber eher eine Geräuschattacke einer nicht übermäßig gut spielenden Band. Wir flüchten erst mal in den hinteren Bereich des Clubs. Der Schlagzeuger lässt jegliche Inspiration vermissen, der Gitarrist fällt in erster Linie durch seinen Verzerrer auf, seine Stimme wirkt eigenartig monoton immer auf einer Ebene, keine Überraschungen, laut und langweilig. Selbst Geschrei misslingt. Feeling? Fehlanzeige! Keine Rock-Attitüde. Auffallend gut hingegen ist der musikalische Groove des Bassisten, der auch mit vollem Körpereinsatz zur Sache geht. Um Mitternacht (welch ein Vergleich) ist der Spuk vorbei.
An der Theke hängt Ryan Johnson mit einem drei Finger breit gefüllten Whiskeybecher von den Aquarianern ab. Johnson, der E-Gitarrist der Band aus Raleigh, North Carolina, identifiziert mich als seinen Helden des Abends - ich habe ein Jason-Isbell-Shirt an (ehemals Drive By Truckers). Keine Intuition, sondern eher Zufall. Isbell wird das nächste Album von AA produzieren. Nachdem ich ihm berichte, dass wir mit der Bahn aus Heidelberg angereist sind (sechs Stunden) und AA vor ein paar Wochen in Austin ja schon mal gesehen haben, ist er platt vor Überraschung. Amerikaner lieben die großen Gesten, seine findet Ausdruck in einer Runde Shots, it smells like a bloody mary and it‘s good for your immune systeme and your libido, woher weiß er bloß… Spaß beiseite, wir trinken und verbrüdern uns. Keep eye-contact!
Der „rockorientierte Stadionanteil“, so haben wir‘s zumindest in Austin empfunden, fehlt glücklicherweise. Nicht ohne Grund wird Isbell bei der nächsten Produktion an den Reglern sitzen. Der Club-Sound der Rock-Nacht ist dann auch so eine Art vorauseilender Gehorsam. Nichts schräg Rockendes oder gar Lautes, filigrane Countrysongs, mit Empathie von BJ Barham (auch Akustikklampfe) vorgetragen. Electric-Folk-Tupfer, Americana-Versatzstücke bis hin zu Songwritereinflüssen, die eher im Süden der Staaten beheimatet sind. War der Auftritt Johnson‘s an der Theke Rock ‘n‘ Roll like, kommt er auf der Bühne völlig relaxt daher. Unsere Befürchtungen, dass er nach einer größeren Anzahl Shots sein sechssaitiges Arbeitsgerät weder halten noch spielen kann, erfüllen sich nicht. Die Augen öffnet er nur, um die nächste Fluppe in Brand zu setzen. Bill Corbin am Bass und Chris Hibbard am Schlagzeug liefern ein zurückhaltendes Rhythmusgerüst, können aber bei den wenigen Midtemposongs auch losrocken. Handwerklich sind beide über jeden Zweifel erhaben. Whit Wright an der Pedal Steel liefert die erforderlichen Zutaten für das Americana-Roots-Country-Rock-Menue. Jay Shirley an der Hammond B 3 fehlt mutmaßlich aus Kostengründen, schadet an diesem Abend nicht, wir haben ja ohnehin keinen Vergleich. Um den Sound am ehesten nahezukommen, hier ein Versuch: AA klingen wie Reckless Kelly auf Country. Das ist doch schon mal was…
Einziges Manko: Zu wenig Publikum und zu spät begonnene Show, wir müssen zurück ins Hotel, es ist schon nach 1:00 Uhr. Die Mugge selber war gut und die Band sehr sympathisch. Sehe ich mir bei passender Gelegenheit wieder an.
CD-Empfehlung:
Dances For The Lonely (2009/2012)
…ich kenne nur diese, ist allerdings mehr lieferbar…
Gunther Böhm