Totgesagte leben länger

Zum 125. Geburtstag der Schallplatte

Den Siegeszug rund um den Globus trat das Vinyl erst 90 Jahre nach seiner Erfindung (1877) durch Thomas A. Edison an – zu Beginn der 60er, als die schwarze Scheibe zum Massenmedium wurde.

Heute gibt‘s nur noch, wenn es gut läuft, Tonträger, oder viel schlimmer, seelenlose Datenträger, die keinen Raum mehr für Identifikation lassen, nichts Haptisches – Manna für die Massen! Früher, in einer für immer verloren geglaubten Zeit, ja früher war alles besser, oder? Jedes Cover hatte seine eigene Geschichte, ohnehin war das Coverartwork eine Kreativbranche für sich. Kein Material das keine Verwendung gefunden hätte, vom Jutesack (Wishbone Ash) über Jeansstoff, Holz, Metallapplikationen, Papier und Pappe, Reißverschlüsse, eine beim Aufklappen eines Albums „aufstehende Band“ (Jethro Tull), es gab nichts, was es nicht gab. Ganz zu schweigen vom rituellen Auflegen der LP, mit Argusaugen wurde beobachtet, ob die Nadel die Anlaufrille trifft. Manche Platten rotierten so oft („Rumours“), bis man durch das Vinyl Zeitung lesen konnte. Und überhaupt, von wegen „Schwarze Scheiben“, keine Farbe wurde ausgelassen – auch ohne Farbe – keine Problem, bitteschön, clear vinyl, jedes Gimmick war machbar, Doppelalben die nur dreiseitig bespielt waren (Johnny Winter), wieder andere Doppelalben auf denen Seite 1 und 4 sowie Seite 2 und 3 auf je einer Platte waren (Frank Zappa), Vierfachalben, riesige Booklets, in vier Richtungen aufklappbare Cover. Die Aufzählung lässt sich beliebig erweitern. Limitierte Auflagen, die von cleveren Marketingstrategen, erdacht wurden, befeuerten die ganze Szene zusätzlich. In einer analogen Sammler-Parallelwelt nisteten sich die Bootlegger ein, die die Fans, die schon alles hatten, mit dem versorgten, was nicht so einfach aufzutreiben war, vorrangig Livemitschnitte und Studioouttakes. Dass da Gesetze missachtet wurden, war auf beiden Seiten, Dealer und Konsument, nicht weiter relevant. Eine durchaus skurrile aber auch liebenswerte Gesellschaft.
Sammler unter sich bedienten sich einer Geheimsprache, Außenstehende zuckten leicht genervt und ahnungslos mit den Schultern. Ein Klappcover mutierte zum foc, Geschreibsel auf der Hülle wurde zu woc oder wol, es gab Retouren und Rückstände, Cut-Outs, Label und Vertriebe, die Industrie, wiederum Unterlabel (Decca und Deram), Erst- und Nachauflagen, Yugoton, Pink Island oder Island (Strahlen), Promos, Weißmuster, Lochcover , m- und vg++, ss (still sealed) und und und. An Sonntagnachmittagen „musste“ der Rest der Familie erraten, wer sich da gerade mit 33 1/3 Umdrehungen im Kreise dreht.
Das Herausziehen der begehrten Scheiben aus der Innenhülle (Innersleeve) war vergleichbar mit dem Hochamt der katholischen Kirche. Ungefütterte Innersleeves wurden sofort gegen gefütterte ausgetauscht (weil Vinyl schonend), wobei die bedruckten Originale selbstverständlich wieder beigefügt wurden. Das Cover selber erhielt einen zusätzlichen Schutz vor allzu schneller Abnutzung durch eine weitere Außenhülle.

Im Osten dieses Landes durfte der Fan für eine Original-„Exile…“ von den Stones (wohl die Band mit den meisten Boots – und qualitativ auch mit den besten) bis zu einem halben Monatslohn hinblättern. Nach Budapest ging die Reise nur wegen der dort erhältlichen Originalscheiben, Pfirsiche und Weintrauben spielten eine untergeordnete Rolle, zumindest der Musikkonsument ging nicht immer nach Brot! Die Läden im Paris des Ostens hatten klangvolle Namen: Solaris, Grammophon oder auch Phonograph, ich kann mir nicht vorstellen, dass außer „DDR“-Freaks „Grün-Blau“ (Shelli, 501 und Jesuslatschen und sackförmigen Batikkleidern) je eine andere Klientel diese Läden betrat. Das war schon Abzocke, heute heißt das „Markt“ egal, die Mink de Ville „Sportin‘ Life“, die mit den angedruckten Goldzähnen (fühlbar) musste her, auch wenn das Original stolze 120 Ostmärker kostete.
Der intensivste Moment war die Zweitverwertung der Westpakete, nachdem sich die Stasi vorab großzügig bediente. Die Konterbande, Westernhagen und Co, wurde konfisziert und landete in der Giftkammer oder evtl. auch auf deren Plattenteller, wer weiß, verstanden haben die Berufsspitzel die Botschaften nicht. Dafür waren die einfach zu doof. Was war das für ein „Geschäft“: Fünf Stones-LP‘s aus dem „Goldenen“ gegen 5 Lion-Feuchtwanger-Schinken, die in den staatlichen Buchhandlungen verstaubten. Wohl dem, der die richtigen Kontakte hatte.
Meine erste schwarze Scheibe, war eine Amigaproduktion „20 x Beat“, ein übles Machwerk zeitgenössischer „RGW-Musik“, meine erste Original-LP die „Some Girls“ – inzwischen sind 5.000 hinzugekommen und ich wüßte mindestens weitere 1.000 die fehlen. Noch bleibt etwas Zeit…

Ich erinnere mich an orgiastische LP-Frühschoppen (sehr gerne nach Rockpalästen) oder an nicht minder extatische LP-Nächte, bevorzugt King Crimson. Ein Tag der mit „In the Court of..“ und einigen Flaschen Rotwein begann, der musste ja spannend werden. Blöd war, dass der Reißverschluss endlich dann offen war, wenn sich der Abtastarm nach zwanzig Minuten wieder hob…

Mitte der 80er läuteten dann temporär die Sterbeglocken für die gute alte LP, das digitale Medium CD und später die CD-Brenner, machten dem schwarzen Kunststoff schwer zu schaffen. Es gab sie einfach nicht mehr zu kaufen. Aus und vorbei! Alles sollte besser werden, Haltbarkeit, Platz und insbesondere die Klangqualität. Ja, und praktisch musste es sein. Kunst, jawohl ich meine Kunst, als Ware. Ein Irrsinn!

Müßig darüber zu reden, dass analoge Aufnahmen in der Regel wärmer klingen und das bei häufigem Abspielen der LP entstehende Grundknistern für Kenner eher dazu gehört als das es stören würde. Und das die LP Hertzbereiche erreicht, die die CD nie sehen wird, geschenkt.

Völlig übersehen und falsch eingeschätzt hat die „Industrie“ den Fakt, dass es eine zahlungskräftige Kundschaft gab und gibt, aus dem 68er Revoluzzer (Street Fighting Men) ist ja inzwischen ein Zahnarzt oder Rechtsanwalt geworden, die sich in die Schmollecke zurückzog und den Konsum der CD strikt verweigerte. Die hat das „Praktische“ nicht interessiert. Da half nur, die Presswerke wieder anzuheizen. Inzwischen sind wieder reichlich Neuveröffentlichungen erhältlich und Sammlerbörsen erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit.

Klug beraten war der „Vinylspezialist“ der nicht digitalisiert hat, heute sind solche Sammlungen leicht eine mittelgroße Eigentumswohnung wert. Aktien sind ja auch nicht mehr das, was…. und ob man das jemals über CD‘s wird schreiben können, wage ich zu bezweifeln.

Gunther Böhm

Hier die subjektiv besten Cover-Artworks:

Gunther:

Miles Davis | Biches Brew
Rolling Stones | Sticky Fingers
Nick Cave | Let Love In
King Crimson | In The Court Of The Crimson King
Gravy Train | Ballad Of A Peaceful Man
Jethro Tull | Stand Up
Jethro Tull | Thick As A Brick
Eloy | Same (Mülltonnencover)

Florian: (Liste folgt)

Tommy: (Liste folgt)