Wir stellen uns vor
Gunther
Jahrgang 64, im Osten dieses Landes aufgewachsen, was den Vorteil hat, über zwei im Wettbewerb stehende Gesellschaftssysteme reden zu dürfen. Das Urteil über das zuerst erlebte fällt vernichtend aus, mit der Einschränkung (neben Ampelmännchen und Abbiegepfeil), dass Musik eben nicht nur Ware war, die sich mitunter gut verkaufen läßt, vielmehr Politikum, Transportmittel für Illusionen, Ausdruck von Unangepasstheit, Schrei nach Freiheit, Subtilität, ja sogar gefährliche Opposition sein kann. Was in den 60ern in der Bundesrepublik so etwas wie eine Revolte der aufkeimenden Subkultur (Them, Pretty Things, Kinks, The Who, The Animals...) gegen das Schlagerestablishment war, war in den 70ern in der „DDR“ der (manchmal) stille Protest gegen den Staat als Stones-Fan. Zumindest so lange, bis den Kulturbonzen bewusst wurde: Rockmusik läßt sich nicht verbieten, aber man kann sie prima benutzen! Vor diesem Erkenntnisgewinn der kulturlosen Genossen, waren die Stones die Verkörperung des Bösen, Sinnbild der „kapitalistischen Dekadenz“ und sogenannte Speerspitze der Springerpresse. Ich muss gestehen, dass auch diese Faktoren für mich eine Rolle gespielt haben. Die Stones waren nicht ein, sondern DAS Synonym für Aufruhr! Eine aufgenähte Zunge auf dem Ärmel einer Original-Levisjacke kam einer politischen Provokation gleich. Nicht selten wurden solche „Devotionalien“ von den Lehrern persönlich abgetrennt. Welch ein Ritterschlag! Der West-Onkel sorgte dann per Paket für Ersatz. Ohnehin war ein solcher Aufnäher ein wahres Kleinod. Spannender war nur noch ein über zwei Möpse gespanntes Fünf-Köpfe-Stones-Shirt. Die Spitze der postpubertären Provokation waren zwei zum Victory-Symbol gekreuzte Finger, unterlegt mit Stars and Stripes. Ich wusste nicht was ich wollte, aber sehr genau was ich nicht wollte: Einer von DENEN sein! Niemals!! Den Soundtrack für diese Antihaltung haben Mick und Keith geliefert.
Die „DDR“-Administration hat wirklich alles versucht, den Rock ’n’ Roll zu bekämpfen. Gelungen ist es ihnen nicht. Das Verbot der ostdeutschen Legende „Renft“ verkehrte sich genau ins Gegenteil. Die beiden Platten der Band um Klaus Renft waren nach dem Verbot gesuchter als irgendeine Amiga-Lizenzproduktion. Der Staat schuf sich seine Antihelden. Zu dieser Zeit tauchten dann Zug um Zug in den staatlichen Plattenläden die ersten Lizenzalben und vor den Geschäften Unmengen Kunden auf. Fast jeder großen Band wurde die Ehre einer Veröffentlichung hinter dem Eisernen Vorhang zuteil. Einige Wenige, so z. B. Pink Floyd brachten es sogar auf zwei LP’s. Die Radiosender zogen mit. Allen voran der Berliner Rundfunk mit seinem Format „Duett“. Das war übrigens die Keimzelle des schon zur Legende gewordenen Senders Elf 99. Plötzlich gab es ganze Specials zu hören. Mick Jagger mutierte vom Vertreter der kapitalistischen Subkultur zu einem der prominentesten Gegner Ronald Reagans. Noch in den späten 70er Jahren titelte ein sogenanntes Jugendmagazin mit dem Slogan: Die Rolling Stones – sie rollen bergab. Die berühmteste Rock ’n’ Roll Band der Erde brachte es zu der Zeit sogar auf ein Theaterstück. Der Ungar Tibor Dery führte Regie in „Fiktiver Bericht über ein amerikanisches Popfestival“. Wenngleich die Stones nicht sofort namentlich genannt wurden, bestand überhaupt kein Zweifel, dass es sich um das Desaster in Altamont handelt. Unterschwellig wurde Mick & Co. sogar Rassismus vorgeworfen. Niemand wird die Vorgänge in Altamont beschönigen wollen. Trotzdem ist es unvorstellbar, dass die Band, die ihre Wurzeln im Blues hat, die Unterdrückung ihrer musikalischen Ahnen begrüßt haben soll. Jahre später hat Keith Richards mit seiner Besetzung der X-Pensive Winos eindrucksvoll das Gegenteil bewiesen.
Meine musikalische Sozialisation begann, da muss ich so ca. 12 Jahre gewesen sein, mit Deep Purple’s „Fireball“, die ich nicht selber besaß, sondern ein Nachbar und Mitschüler. Das kam einer „Revolte“ schon sehr nahe. Noch heute ziert das Cover eine „ LP-Wand“ in meinem Büro, an der die (Selbst-)Entwicklung und auch die persönlichen Irrtümer dokumentiert sind.
Nicht viel später erschienen auf Amiga die beiden, heute gesuchten, „American Folk Blues Festival“ LP’s, was einem musikalischen Paradigmenwechsel gleichkam. In diesen beiden Scheiben liegt die Begründung für meine Liebe zum Blues, insbesondere für Otis Rush (unvergessen „All Your Love“). Beides hält bis heute an, auch wenn ich immer öfter links und rechts des Weges fündig werde. Keine Musik berührt mich mehr und keine Musik hat es bisher geschafft, mein Lebensgefühl besser auszudrücken. Ich kehre immer zurück.
Die Schlüsselerlebnisse drei und vier: „Can’t You Hear Me Knockin’?“ von den Stones! Ab da war, wie es Wolfgang Niedecken in einem ähnlichen Zusammenhang treffend bemerkte, „Nix wie bessher“… An die Wirkung von „Can’t You Hear Me Knockin’?“ kann ich mich noch ganz gut erinnern. Als ich das beste Riff der Rockmusik zum ersten Mal gehört hatte war ich so aufgewühlt, dass ich am liebsten eine Fensterscheibe eingeschmissen hätte. Ich hab das natürlich nicht gemacht, (warum eigentlich nicht?) aber immerhin hat meine ganze Aggression, meine ganze Wut und mein ganzer Hass auf dieses System ein Ventil gefunden. Die etwas eigenwillige Textinterpretation las sich dann so: Hört ihr mich nicht klopfen, ich will hier raus aus diesem Pseudo-Staat! Die „Sticky Fingers“ ist bekanntermaßen aus dem Jahr 1971, erreicht hat mich der Song dann endlich 1978! Ich halte diese Aufnahme noch heute für die beste, die die Stones je gespielt haben. Das Ineinanderfließen der Stile, Mick’s phänomenaler Gesang und die gesamte Instrumentierung machen „Can’t You Hear Me Knockin’?“ zu einem eigenständigen Kunstwerk. Nie zuvor habe ich so etwas Provozierendes gehört, musikalisch radikal, rotzig, ein epochales Cover und ein gefährlich scharfes Gitarrenriff von Keith Richards. Einfach Magie! Naja, und die Sessionmusiker waren dann wohl auch nicht die schlechtesten. So habe ich die Stones nie wieder gehört.
Für die nächsten Jahre war die musikalische Grundausrichtung geklärt. Da ging es nicht nur um Musik, das war der Ausdruck (m)eines Lebensgefühls, dass ich nie so auszudrücken vermocht hätte. Selbst in den späten 70ern waren auf den Schulhöfen im Osten des Landes, die Beatles-Fans die Braven die ihre Hausaufgaben hatten, die Stones-Fans verprügelten die vorgenannten mitunter. (Ich kann versichern, dass niemand Schaden nahm, evtl. hat diese radikale Überzeugungsarbeit ja sogar was gebracht) In dieser unruhigen Zeit der Selbstfindung wurde mir von einem Klassenkameraden mein zukünftiger, langjähriger Freund und musikalischer Weggefährte Tommy vorgestellt, der das Privileg einer liberalen Erziehung genoss. Tommy bekam die musikalischen Eier quasi ins Nest gelegt, ich musste mir in einem konservativ geprägten Umfeld diese Dinge erst erobern. Positiver Nebeneffekt: Wir hatten auf unseren tschechischen Vierspurgeräten jeder ca. 100 (!) Stonessongs. Das Geniale war, es gab kaum Überschneidungen, wir konnten unseren Fundus also nahezu verdoppeln.
Die vielen Partys haben Spuren hinterlassen, („Dschörmen Telewischen Braud Tu Prisent“), die Rockpalastnächte glichen wüsten Happenings, bei denen mit allen legalen und illegalen Substanzen experimentiert wurde. Heute noch gut in Erinnerung ist Nacht Nummer 4, J.Geils, Patti Smith und zum Finale Johnny Winter. Das Line-up lieferte dann auch den Soundtrack für die nächsten Jahre und die Partys wurden immer chaotischer. Da blieb auch mancher auf der Strecke, zu bereuen habe ich nichts.
An einer persönlichen Art-Rock-Phase (Yes, Gentle Giant, King Crimson) Mitte der 80er bis Anfang 90er nahm ich keinen größeren Schaden, die Platten will ich schon lange verkaufen, es fehlt die Gelegenheit. Etwa zur gleichen Zeit waren Wishbone Ash ziemlich angesagt, heute ziehe ich nur noch selten eine der alten Ash-LP‘s aus dem Regal, auch wenn die ersten vier Veröffentlichungen Kleinode der „Leadgitarren“ waren.
„Ausprobiert“ habe ich noch einiges, Zappa und Beefheart, Tom Waits natürlich, Nick Cave, sie spielen auch heute alle noch eine Rolle, wichtiger aber war die Entdeckung von Bob Dylan, zu dem ich erst sehr spät gefunden habe. Es waren nicht so sehr seine Texte, vielmehr, dass er es für mich ausgedrückt hat – Gotta Serve Somebody – nimm dich nicht so wichtig, es gibt etwas, das über dir steht. Da muss man erst mal drauf kommen…
Mit den „American Recordings“ von Johnny Cash begann mein Aufbruch in die musikalische Neuzeit, heute heißt das „Roots“ oder auch „Americana“. Seit 1995 ist das schwäbische Label „Blue Rose Records“ der sichere Hafen für diesen Sound. 2009 war ich dann zum ersten Mal beim größten Festival auf diesem Planeten: „South By Southwest“ in Austin, eine Offenbarung für Fans aller Richtungen.
Der Mitbetreiber dieser Seite, Florian, gibt mir in der jüngeren Vergangenheit, auch mal härtere Sachen auf die Ohren, wovon ich manches sogar richtig gut finde. Wenn man kein Schubladendenken hat, kommt man an handwerklich gut gemachter Musik einfach nicht vorbei.
Also, kurzum, auf dieser Seite bin ich eher für den Part, Blues, Roots, Alternative Country usw. zuständig. Hier eine kleine Auswahl an Platten, die mir aus irgendwelchen Gründen nennenswert erscheinen und mich mehr oder minder beeinflusst haben:
Rolling Stones ♦ Sticky Fingers
Bob Dylan ♦ Desire
Keith Richards ♦ Main Offender
Tom Waits ♦ Raindogs
Johnny Cash ♦ American Recordings (alle)
Howlin‘ Rain ♦ Russian Wilds
Chuck Prophet ♦ Homemade Blood
Buddy Guy ♦ Sweet Tea
Muddy Waters ♦ Folk Singer
Howlin‘ Wolf ♦ The London Sessions
Otis Spann ♦ Biggest Thing Since Colossus
Tom Waits ♦ Bad As Me
Neil Young ♦ Ragged Glory
Band Of Heathens ♦ One Foot in the Ether
Captain Beefhart/Frank Zappa ♦ Bongo Fury
Steve Earle ♦ Transcendental Blues
BAP ♦ Halv so wild
Reverend Peyton ♦ Peyton on Patton
Chuck Berry ♦ Rocks
Hayes Carll ♦ KMAG Yoyo
Ryan Bingham ♦ Roadhoue Sun
Jimmy Witherspoon ♦ Live At The Mint
Vic Chesnutt ♦ North Star Deserter
Nick Cave ♦ Firstborn Is Dead
Hubert Sumlin ♦ About Them Shoes
Rolling Stones ♦ Exile
Undundund …